Im August 2013 zieht der neunjährige Erik* bei Familie Neuhagen* ein. „Mit voller Wucht ist ein anderes Leben in meine Familie gekommen“, erinnert sich Ines Neuhagen* an die Anfangszeit mit Erik. Nun sind 9 Jahre vergangen und aus ihm ist ein junger Mann geworden, der im Sommer seine Ausbildung im Bereich Metalltechnik beginnen wird.

Wie alles begann…
Aufmerksam geworden auf die Fachberatung Pflegefamilie des Albert-Schweitzer-Familienwerks ist Ines Neuhagen damals über eine Freundin. Ursprünglich wollten sie und ihr Mann als Gastfamilie einen unbegleiteten Flüchtling aus Afghanistan bei sich zuhause aufnehmen. Auf einem Infoabend bei der Fachberatung Pflegefamilien in Moringen wurde beider Neugier dann geweckt und sie bewarben sich als Pflegefamilie. Nachdem sie als Familie das Bewerbungsverfahren durchlaufen hatten, war klar: „Wir wollen Pflegefamilie werden, aber nur mit der Fachberatung.“ Ines Neuhagen erzählt, dass sie während der Bewerbungsphase, die sich aus vier Themenabenden und mehreren Hausbesuchen zusammensetzt, gut von den Fachberaterinnen und Fachberatern informiert und begleitet wurde. „Wir bekamen den Raum, unsere Bedenken zu äußern und uns gemeinsam auf den Weg zu machen. So erhielten wir ein Gefühl dafür, was es bedeutet, eine Pflegefamilie zu werden.“
Als Familie Neuhagen die ersten Informationen über Erik erhielten, dachten sie: „Das ist ein Sechser im Lotto. Der Junge passt perfekt in unsere Familie.“
Heidi Müller, Abteilungsleiterin der Fachberatung Pflegefamilien, berichtet dazu: „Wir erstellen gemeinsam mit dem zuständigen Jugendamt ein Profil der Pflegefamilie und schauen welches Kind, in welcher Familie am besten aufgehoben ist. Uns ist es ein Anliegen, die potentiellen Pflegeeltern prozessbegleitet kennen zu lernen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich auf das Neue und Aufregende einzulassen.“

Gegenseitige Rücksichtnahme, aufmerksames Zuhören und Beobachten
Die Aufnahme eines Pflegekindes verändert das Zusammenleben komplett. Das hat auch Familie Neuhagen mit allen schönen und herausfordernden Seiten kennengelernt. „Man muss sich im Klaren sein, dass Veränderungen auf einen zukommen werden und wir sind mit Werten in Kontakt getreten, die uns vorher verschlossen waren.“
Ines Neuhagen berichtet, dass ihre Patchwork-Familie durch die Aufnahme von Erik enger zusammengewachsen ist. Durch gegenseitige Rücksichtnahme, aufmerksames Zuhören und Beobachten konnten sie die Umstellung ihres Familienalltags gemeinsam gut meistern. Und auch sie habe Veränderungen an sich entdeckt. So sagt sie, dass sie viel geduldiger und pünktlicher geworden sei, weil ihr Pflegekind dies besonders in den ersten Jahren gebraucht habe. Und auch die eigenen Kinder konnte sie in diesem veränderten Familiengefüge von einer anderen Seite kennenlernen.
Natürlich gibt es schwierige Phasen, die es gemeinsam als Familie zu bearbeiten und zu überstehen gilt. Gerade zu Beginn gab es grenzüberschreitendes Verhalten von Seiten des Pflegekinds, worauf die leiblichen Kinder mit der Idee eines Familienrats reagiert haben. Die Botschaft des Familienrats war deutlich: „Wir alle wollen, dass du bei uns bleibst, aber du musst auch etwas dafür tun, dass wir alle gut miteinander zusammenleben können.“ Seither sind keine größeren Katastrophen mehr gewesen. Er hat seine Chance radikal genutzt, freuen sich die Neuhagens.
In die Rolle der Pflegemutter musste sich Ines Neuhagen erst hineinfinden. Mit der Zeit lernte sie, dass es am wichtigsten ist, Erik die Zeit zu geben und ihn so zu nehmen, wie er ist. „Es war mir immer wichtig, dass er wusste, dass er im Team unserer Familie mitspielt, dass er ein wichtiges Teammitglied ist und wir alle für ihn da sind.“

Die Rolle der Fachberatung
Als Stärke der Fachberatung Pflegefamilien empfand Ines Neuhagen, dass sie bei den sechswöchentlichen Beratungsgesprächen ungefiltert alle Sorgen und Probleme ansprechen konnte, ohne direkt Angst vor einer Verurteilung zu haben. Sie vergleicht die Unterstützung der Fachberaterinnen und Fachberater mit einer Art Krankengymnastik für Blockaden im Kopf. Durch wertfreies und interessiertes Nachfragen wurde der Blick auf die Problemsituation wieder frei und sie konnte sich auf neue Sichtweisen einlassen. „Sehr geholfen hat mir in den Beratungsgesprächen, dass mir immer wieder klargemacht wurde, dass ich die eigenen Erwartungen herunterschrauben und mich nicht zu sehr stressen lassen soll.“ Auf diese Weise wuchs in ihr die Erkenntnis: „Das Wichtigste ist erstmal, dass das Kind Leben lernt, der Rest kommt dann schon von alleine.“

Blick nach Vorn
Pflegefamilie zu werden bedeutet immer auch, irgendwann los- und das Pflegekind ziehen zulassen. „Erik braucht noch ein bisschen, aber er ist auf einem guten Weg. Er wird sein Leben rocken. Es macht mich stolz, was er für sich erarbeitet hat. Da muss erstmal jemand kommen, der ihm das Wasser reichen kann.“
Mit dieser Erkenntnis schließt sich für Ines Neuhagen ein Kreislauf. Sie berichtet, dass sie aus ihrer eigenen Biografie Gefühle der Einsamkeit und Hilflosigkeit kennen würde. In diesen schweren Zeiten habe sie bedingungslose Hilfe erfahren und wollte diese nun an anderer Stelle zurückgeben. „Ich helfe dir wieder auf die Füße zu kommen und dann kannst du wieder jemandem helfen. Dann schließt sich der Kreis wieder.“

Interesse?!
Am Montag, 4. Juli lädt die Fachberatung Pflegefamilien in Moringen, Amtsfreihet 4, wieder zu einem Informationsabend ein. Interessierte erhalten dort einen ersten Überblick über das Thema Pflegefamilie und die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Jeder, der sich dem Thema nähern möchte, ist herzlich willkommen. Der Infoabend startet um 17 Uhr und dauert etwa zwei Stunden. Aufgrund der in den Räumen der Fachberatung noch geltenden Corona bedingten Abstandsregeln ist eine Anmeldung per Telefon oder Mail nötig.

Tel.: 05554 – 99 59 86 0

Weitere Informationen gibt es auch hier im Internet.

* Die Namen des Kindes und der Pflegefamilie wurden aus Personenschutzgründen geändert